Lu Yongxiang, von 1993 - 1997 Vizepräsident, von 1997 - 2010 Präsident der CAS (Chinese Academy of Sciences)

Auszug aus einem Interview, das in dem Buch Gelebte Geschichte - 40 Jahre diplomatische Beziehungen Volksrepublik China - Bundesrepublik Deutschland in Kürze erscheint:

 

Ende der 1970er Jahre studierten Sie an der RWTH Aachen und kooperierten mit deutschen Kollegen in der Forschung. In den zwei Jahren haben Sie sicher viel erlebt. Welche Erfahrung hat Sie am tiefsten beeindruckt?

 

In der zeitgenössischen Geschichte haben viele deutsche Literaten, Künstler, Wissenschaftler und Ingenieure große Beiträge zur menschlichen Zivilisation geleistet. Während des Studiums in Deutschland konnte ich direkte und enge Kontakte zu den deutschen Kollegen in den Bereichen Ingenieurwissenschaften und Pädagogik aufnehmen. Der Fleiß und die Präzision der Deutschen haben mich sehr beeindruckt. Die wissenschaftlichen Forschungen werden systematisch organisiert und das System schein fast perfekt.

Die enge Kombination von Theorie und Praxis in den Ingenieurwissenschaften ist mir besonders positiv aufgefallen. Die RWTH Aachen verfügt über den besten Maschinenbau-Lehrstuhl in Europa, der zu den besten der Welt gehört. Eine Professur für Ingenieurwissenschaften an der RWTH Aachen setzt voraus, dass der Kandidat mindestens fünf Jahre Berufserfahrung in Betrieben mitbringt und eine Habilitation geschrieben hat. Damit wird garantiert, dass die Professoren mit der Praxis vertraut sind und enge Kontakte zur Industrie haben.

Zweitens atmet man freie Luft im deutschen Forschungssystem. Ich war Gastdozent über die Humboldt-Stiftung und hatte Zugang zu allen öffentlichen Einrichtungen im Institut, zu Computerräumen und Labors.

Drittens ermutigten die deutschen Professoren die Nachwuchsforscher, unabhängig und unkonventionell zu denken. Ich war der erste Gastdozent aus der Volksrepublik China in dem Institut. Ich hatte unter anderem den Auftrag für ein halbes bis ein Jahr, ein mathematisches Modell zu entwickeln. Ich habe dann nur eine Woche gebraucht, um diese Aufgabe zu erfüllen. Danach legte ich mein eigenes Forschungskonzept vor. Die Professoren fürchteten zunächst, dass ich das Konzept nicht innerhalb des vorgegebenen Zeitraums verwirklichen könnte. Aber nachdem ich meine Idee und Kompetenz bewiesen hatte, haben sie mein Forschungskonzept auch unterstützt.

 

China strebt nach Innovation. Welche Erfahrungen lassen sich aus dem deutschen Bildungs- und Forschungsbereich nutzen?

 

Mein Forschungsaufenthalt in Deutschland für drei Jahre war ziemlich kurz. Zuvor hatte ich bereits 13 Jahre lang an der Zhejiang-Universität gearbeitet. Ich hatte also schon einige Erfahrungen in Lehre und Forschung, als ich nach Deutschland kam.

Das Studium in Deutschland hat meinen Horizont erweitert. Das landesweite Autobahnnetz sowie das moderne Leben in der Stadt und auf dem Land, all diese Eindrücke prasselten auf mich ein. Mir wurde bewusst, dass China und Deutschland in puncto Wissenschaft und Technik und Lebensstandard noch nicht vergleichbar waren. Es bestanden noch große Unterschiede, die durch verstärkte Bemühungen ausgeglichen werden mussten.

Nach meiner Meinung sind von der deutschen Lehre und Forschung einige Punkte besonders lernenswert: die Verbindung von Theorie und Praxis, die Kombination der Forschung mit den Ansprüchen der wirtschaftlichen und der gesellschaftlichen Entwicklung und die Verknüpfung von Wissenschaft und Technik. Die Forschungsarbeit steht im engen Zusammenhang mit Betrieben, denn sie spenden einen Großteil der Infrastruktur der Labors. Die Laborergebnisse finden dann auch zunächst in Betrieben ihre erste Anwendung. Das hat meine spätere Arbeit an der Zhejiang-Universität und an der CAS tief beeinflusst.

Im deutschen Bildungssystem ist vernünftig, dass viele Schüler aufgrund ihrer Interessen und Kompetenzen Realschulen und im Anschluss Fachhochschulen besuchen. Aus ihnen wird Personal mit besonders handwerklichem Geschick. Ein anderer Teil, weniger als die Hälfte der Schüler, besucht die Universität und geht dann in die Forschung. Die deutschen Kollegen sagten mir, so eine Ausbildungsstruktur entspreche der Beschäftigungssituation und stütze die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands. Auch das beeindruckt mich sehr.

Die Finanzkrise hat fast ganz Europa erwischt. Aber die deutsche Wirtschaft bleibt relativ stabil und kann sich ziemlich gut davon erholen. Das hängt damit zusammen, dass Deutschland stets großen Wert auf die Realwirtschaft und die herstellende Industrie gelegt hat.

 

Nach Ihrer Rückkehr haben Sie sich sehr für den Austausch in Wissenschaft und Forschung zwischen China und Deutschland engagiert. Auf welcher Grundlage beruht der Austausch in diesem Bereich? Und welche Visionen hat man?

 

Die menschliche Zivilisation wird von allen Nationen der Welt geschaffen. Im Rahmen der Reform- und Öffnungspolitik muss China sowohl von englischsprachigen Ländern wie Großbritannien und den USA lernen, als auch von deutschsprachigen, von französischsprachigen und auch von Japan.

Als ein mittelgroßes Land hat Deutschland erkannt, dass es die Zusammenarbeit mit anderen Ländern benötigt, um den technischen Vorsprung zu halten. Einerseits misst Deutschland der Kooperation mit den anderen Industrienationen große Bedeutung bei, andererseits sucht es auch Schwellenländer wie China und Indien als Kooperationspartner. Eine deutsche hochrangige Persönlichkeit aus dem Bereich Wissenschaft und Bildung sagte mir einmal, sobald sich eine Nation satt essen könne, mache sie sich Gedanken über ihre Entwicklung. Und tatsächlich beruht die Entwicklung auf Bildung, Wissenschaft und Technik. Deutschland konnte beobachten, dass sich China und Indien fast zur selben Zeit ihrer Kolonial- und Halbkolonialherrschaft entledigten und die Chinesen im Vergleich zu Indien ihre existenziellen Probleme wie Essen und Kleidung schneller lösen konnten. Den Deutschen ist klar, dass China und Indien in Zukunft eine wichtige Kraft in den Bereichen Wissenschaft, Technologie und Bildung werden. Die beiden Länder verfügen zudem über eine große Bevölkerung und eine lange kulturelle Entwicklung. Die Entwicklung von Wissenschafts- und Ausbildungskooperationen Deutschlands mit China und Indien liegt im Interesse beider Seiten.

Deshalb habe ich mich während meiner Zeit an der Zhejiang-Universität und bei der CAS für eine Zusammenarbeit mit Deutschland eingesetzt. In den ersten zehn bis 20 Jahren haben wir von Deutschland vor allem viel gelernt. Danach wurde der Austausch für beide Seiten fruchtbar und nach und nach entstand eine Win-win-Situation. Durch internationale Zusammenarbeit kann die Innovationskraft von allen Beteiligten erhöht und damit ein gegenseitiger Nutzen realisiert werden. Diese Regel gilt universal. Obwohl wir uns in unterschiedlichen Entwicklungsphasen befinden und auf unterschiedliche Kulturtraditionen blicken, leben wir doch auf derselben Erde. Wir sind vor gleiche oder ähnliche Herausforderungen gestellt wie Ressourcenmangel, Energieeinsparung und Reduzierung der Schadstoffemissionen. Wir haben viele gemeinsame Interessen. Die gemeinsamen Herausforderungen und der Wunsch nach Entwicklung verbinden die beiden Länder. Das Handelsvolumen ist von der Aufnahme diplomatischer Beziehungen bis ins Jahr 2011 um das 617fache gestiegen, was weltweit einzigartig ist. Das spricht dafür, dass sich die beiden Wirtschaften gegenseitig gut ergänzen. Der Austausch in den Bereichen Wissenschaft und Technologie, Bildung, Kultur und vor allem zwischen der Jugend ist in der Entwicklung einer umfassenden strategischen Partnerschaft zwischen China und Deutschland von großer Bedeutung.

 

In den östlichen Kulturen herrscht oft ein induktives Gedankengut vor. Eine Sache wird dabei häufig ganzheitlich betrachtet. Hingegen konzentrieren sich die westlichen Kulturen eher auf die Analyse. Heutzutage wird der Austausch zwischen dem Osten und dem Westen immer intensiver. Zugleich verschmelzen die Grenzen zwischen verschiedenen Fachgebieten. Welche Form der Intelligenz kann der Menschheit helfen, ganz unmittelbare Probleme zu lösen? Beispielsweise den Klimawandel oder den Mangel an Wasserressourcen, an Nahrungsmitteln und Energie? Auf welchem Gebiet von Wissenschaft und Technik wird es Ihres Erachtens dazu substantielle Fortschritte geben?

 

Die Triebkräfte der Entwicklung von Wissenschaft und Technik gliedern sich in folgende Arten: erstens in die Ansprüche der Entwicklung von Wirtschaft und Gesellschaft und zweitens in die innere Entwicklungskraft von Wissenschaft und Technik. Letztere speist sich auch aus den innovativen Gedanken und Motivationen der Wissenschaftler. Alles in allem spielen die Ansprüche der Entwicklung von Wirtschaft und Gesellschaft dabei eine dominierende Rolle, was die jüngere Geschichte bewiesen hat.

Die Wissenschaft und Technik der westlichen Länder unterscheidet sich von der traditionellen chinesischen. Ich meine, die sechs großen Erfindungen des antiken China haben große Beiträge zur Entwicklung der menschlichen Zivilisation geleistet: Papier, Buchdruck, Schwarzpulver, Kompass, Porzellan und die Verarbeitung von Seide. Es sind Praxis-Erfindungen von vielschichtiger Natur. Betrachten wir als Beispiel die Traditionelle Chinesische Medizin. Sie sieht den Körper als etwas Ganzes. Deshalb versucht sie durch die Stärkung des Abwehrsystems des Körpers, Krankheiten vorzubeugen und zu behandeln. Die antiken wissenschaftlichen Forschungen Chinas zeigten allerdings Schwächen in der Präzision von Experimenten und in der quantitativen Analyse im Rahmen des Reduktionismus.

Im Vergleich stützten sich im Westen Wissenschaft und Technologie historisch vorwiegend auf den Reduktionismus. Präzise Kontrollen und Analysen in der Forschung verdrängten zunehmend den holistischen Gedanken. Alle Forschungsobjekte werden von den multiplen, variablen Faktoren beeinflusst, sei es ein Lebwesen, sei es das Universum, sei es ein Wirtschaftssystem. Die reduktionistische Analyse ist zwar wichtig, aber ein holistischer Gedanke darf auch nicht fehlen. Ansonsten verliert man den Blick für das Ganze.

Was die Forschungsmethoden anbelangt, haben die östliche und die westliche Denkweise jeweils eigene Vorzüge. Meiner Meinung nach sollten in der Forschung reduktionistische und holistische Ansätze ausgewogener angewendet werden.

Die größte Herausforderung für die Menschheit ist zurzeit der Mangel an Ressourcen und Energie. Wir müssen nicht nur die Nachfrage von heute befriedigen, sondern auch unseren Nachkommen einen Raum zur weiteren Entwicklung schaffen. Deshalb müssen neue Energien, erneuerbare Energien und Technologien zur Energieeinsparung und zur Reduzierung der Schadstoffemission entwickelt werden. In diesen Bereichen haben China und Deutschland einen gemeinsamen Bedarf. Die Rohstoff- und Energieforschung wird in Zukunft sicherlich noch stärker auf energiesparende, erneuerbare und umweltfreundliche Faktoren gerichtet sein. Und für die herstellende Industrie der Zukunft werden umweltfreundlich, energiesparend, nachhaltig, intelligent und global vernetzt die Schlüsselwörter sein.

Im gesamten Bereich Gesundheit sollte China meiner Meinung nach künftig nicht nur die  private Vorsorge weiter ausbauen. Ebenso sollte das Augenmerk auf die chinesischen Gegebenheiten geworfen werden, sprich auf die große Bevölkerungszahl und den ziemlich hohen Anteil an armen Menschen. Um die Gleichheit in der medizinischen Versorgung für alle Einwohner zu sichern, ist ein sogenanntes Shared Medical System (SMS) notwendig, ergänzt durch die private Vorsorge. SMS bedeutet dabei auch, die Aufmerksamkeit nicht länger vorrangig auf medizinische Geräte, Arzneimittel und Behandlungsmöglichkeiten zu richten. Denn in einem Entwicklungsland könnten allein mit besserer Wasser- und Luftqualität und mehr Lebensmittelsicherheit schon mal 70 Prozent aller Krankheitsfälle vermieden werden. Und wenn doch jemand krank wird, sollte er sich im Anfangsstadium der Krankheit behandeln lassen. Dann reicht es nämlich auch, kostengünstige Medizin einzusetzen. Und die können sich auch Patienten mit niedrigem Einkommen leisten. Doch zurzeit sind wir immer noch dabei, die Umwelt zu stark zu verschmutzen. Die Existenz der Menschheit wird von Naturkatastrophen und auch durch Menschen verursachte Gefahren bedroht. Daher müssen wir die Technologien zur Umweltkontrolle und -sanierung weiterentwickeln.

China und Deutschland haben die gleichen Interessen in diesen Gebieten. Das bildet die Grundlage für Kooperation und wird einer der Schwerpunkte in der künftigen Zusammenarbeit sein. In Zukunft sollten sich beide Länder für eine umweltfreundliche, intelligente und nachhaltige Entwicklung einsetzen. Beide Seiten profitieren von der gemeinsamen Forschung. Es gilt, ein Kooperationsmodell zum gegenseitigen Nutzen zu entwickeln.

 

Wenn man die Gipfel von Wissenschaft und Forschung mal mit dem Qomolangma (Mount Everest) vergleicht, sind die chinesischen Wissenschaftler dann vielleicht schon auf einer Höhe von 6.000 bis 7.000 Metern angekommen? Wie lange brauchen sie noch zum Gipfel? Und können internationale Kooperationen den Weg verkürzen?

 

Wissenschaft und Forschung haben eigentlich nie ein Ende. China kommt seinem Ziel, in der Wissenschaft in der Spitzenklasse mitzuspielen, zurzeit immer näher. In manchen Bereichen stehen wir bereits ganz vorne. Ich denke, in zehn bis 15 Jahren kann China eine der großen Wissenschaftsmächte sein. Den Abstand zu den anderen sehe ich vor allem darin, dass es uns derzeit noch an elementaren wissenschaftlichen Innovationen und an die Welt beeinflussenden technischen Innovationen mangelt. Es geht nicht nur um Schlüsseltechnologien, sondern auch um wichtige und führende Innovationen der Systemintegration. Denn in diesen beiden Bereichen können wir bislang nur wenig Erfolg vorweisen. Alles in allem muss sich China beim Thema Innovation noch weiter bemühen. Dafür müssen der Bildungs- und Kulturbereich und das Innovationssystem weiter reformiert werden. In China ist ein neues Innovationssystem erforderlich.

Konzept, Interview und Protokoll: Lu Ming

Übersetzung/Überarbeitung: Chen Yan, Tabea Nehrbaß

Foto: Chen Wei

Quelle: CRI

Prof. Dr. Lu Yongxiang (*1942) studierte an der Zhejiang-Universität Ingenieurwissenschaften. Er promovierte 1981 an der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule Aachen (RWTH). Dr. Lu wurde 1988 Rektor der Zhejiang-Universität und 1997 Präsident der Chinesischen Akademie der Wissenschaften (CAS). Seit 1994 ist er auch Mitglied der Chinesischen Akademie der Ingenieurwissenschaften und seit 2005 Mitglied der deutschen Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina. 2006 erhielt er als zweiter Ausländer die Harnack-Medaille, den höchsten Wissenschaftspreis der Max-Planck-Gesellschaft. Heute ist er Vize-Vorsitzender des Ständigen Ausschusses des chinesischen Volkskongresses.

In dem Buch erscheinen insgesamt 40 persönliche Erfahrungsberichte in Form von Interviews - 20 mit chinesischen Persönlichkeiten, 20 mit Personen aus Deutschland -, u.a. mit Hans-Dietrich Genscher, Wang Shu (Ex-Vizeaussenminister), Yu Long (Dirigent), Mei Zhaorong (Ex-Botschafter), Lian Yuru (Politikwissenschaftlerin), GTian Mansha (Sichuan-Opernregisseurin), Norbert Egger (Ex-Bürgermeister Mannheim), Timo Boll und Christian Y. Schmidt.